2 wichtige Faktoren für Dein Wohlbefinden – das Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Wenn es uns nicht gut geht, spielen viele Faktoren eine Rolle. Einen Überblick über die Wichtigsten gibt dieser Artikel.
In diesem Artikel findest Du ein weiteres grundsätzliches Erklärungsmodell für psychische, körperliche und psychosomatische Beschwerden, das häufig in der Psychotherapie oder in Coachings verwendet wird.
Es geht um die Funktionsweise unseres Nervensystems und wie sich das auf unser Befinden und vielfältigste Beschwerden auswirkt.
Es gehört zu den inneren Faktoren (siehe Vulnerabilitäts-Stress-Modell) oder zu unseren Mustern (siehe Mindset). Und zwar auf physiologischer/biologischer Ebene.
Wie es der Name schon vermuten lässt, soll es das Überleben eines Lebewesens sichern. Und das tut es seit seiner evolutionären Entstehung sehr zuverlässig. An einem Beispiel kannst Du sehen, wie es funktioniert.
Bruno, ein vor vielen tausend Jahren lebender Urmensch, ist mit einer Gruppe Jäger unterwegs in der Wildnis. Außer dem Wind, dringt ein Rascheln an sein Ohr. Schemenhaft sieht er im Dickicht einen Schatten. Er bleibt stehen. Er ist absolut konzentriert, den Wurfspeer in Position. Er erkennt eine Säbelzahnkatze. Sein Herzschlag beschleunigt sich, die Muskeln sind angespannt, die Atmung wird intensiver.
Diese physiologischen Veränderungen helfen ihm dabei anzugreifen (fight) und die Beute zu erlegen oder sich in Sicherheit zu bringen (flight). Beides dient dazu, sein eigenes Überleben und das der nachfolgenden Generationen zu schützen. Entweder durch Sicherheit oder durch etwas Nahrhaftes zu essen.
Ist in der Bedrohungssituation weder Kampf noch Flucht möglich – es gibt also keine Ausweg – schaltet sein Nervensystem auf Erstarren (Freeze) und (innerlich) Kollabieren. Das ist der sogenannte Totstellreflex oder auch Schreckstarre genannt. In diesem Zustand funktioniert sein Verstand nicht mehr und er ist emotional abgeschaltet, um ihn vor körperlicher und emotionaler Überwältigung zu schützen.
Diese sogenannte Fight-Flight-Freeze Reaktion (Kampf-Flucht-Erstarren) ist evolutionär gesehen also besonders wichtig. Ohne sie wären unsere Vorfahren als Frühstückshäppchen für Großkatzen und andere Tiere geendet oder hätten unsäglich Qualen erleiden müssen.
Nachdem Bruno und seine Kumpanen die Säbelzahnkatze erlegt haben, schütteln sie sich einmal ordentlich und bringen das Essen zurück zur Sippe. Der Braten schmort über dem Feuer, er lehnt sich gelassen zurück, erzählt von der erfolgreichen Jagd und entspannt.
Durch das automatische Schütteln der Muskeln, lässt er die übrig gebliebene Spannung los. Er schaltete zurück in seinen entspannten Modus, den Ruhemodus. Gut beobachten kann man dieses Phänomen in Tierdokumentationen zum Beispiel bei Hasen oder Antilopen, bei denen nach einem Angriff die Muskeln zucken und dadurch die Spannung im Körper abgeschüttelt wird.
Um das zu erklären, müssen wir unser Nervensystem näher anschauen. Genauer einen Teil davon, nämlich das vegetative (auch autonome) Nervensystem. Es ist die Verbindung von unserem Organismus mit seinen Eingeweiden und regelt die Organfunktionen. Das alles läuft unbewusst ab und lässt sich nicht mit dem Willen kontrollieren. Unser vegetatives Nervensystem besteht aus drei Teilen.
Die inneren Organe werden durch den Sympathikus und den Parasympathikus gesteuert. Die beiden Systeme kann man sich als zwei Gegenspieler vorstellen. Oder auch wie einen Schalter. Der eine ist für AN und der andere für AUS zuständig. Wobei AN für aktiviert steht und AUS für entspannt. Für eine optimale Organfunktion und ein spürbares Wohlbefinden sollten Sympathikus und Parasympathikus in Balance sein. Um beim Schalter zu bleiben: Mal ist er AN, mal ist er AUS.
Schlaues Programm, oder?
Schwierig wird es nur, wenn wir aus dem Überlebensmodus (Sympathikus) nicht mehr herausfinden und es zum Dauerzustand wird. Dann können dauerhafte Symptome wie Anspannung, Schmerzen, Magen-Darmprobleme, Erschöpfung oder Depressionen entstehen.
Dieses biologische Programm ist so tief und eben biologisch in uns verankert, dass es immer läuft. Idealerweise in ausgeglichenem Wechsel zwischen den beiden Modi. Wenn in unserem Alltag allerdings zu viele Stressfaktoren (Säbelzahnkatzen) auf einmal da sind, laufen wir eventuell über längere Zeit im Überlebensmodus. Stell Dir vor, über Wochen, Monate oder Jahre ist die ganze Zeit eine Säbelzahnkatze in Deiner Nähe (oder sogar hinter Dir her). Dein System schaltet ganz automatisch auf das Überlebensprogramm. Für kurze Zeit ist das völlig in Ordnung. Doch wenn wir es nicht schaffen, unser vegetatives Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen und ihm (und uns) mal Ruhe gönnen, indem wir den Schalter oft genug auf AUS (Parasympathikus) schalten, geht unser Körper irgendwann in die Knie. Seine Reserven werden aufgebraucht. Und das zeigt er auf seine individuelle Art und Weise mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Nämlich mit körperlichen Beschwerden. Je nachdem, wo er besondere Schwachstellen besitzt.
Solche Zeichen sollten wir im psychobiologischen Sinn ernst nehmen. Nicht zwangsläufig, weil eine schwerwiegende körperliche Krankheit besteht, sondern weil unser Körper nett mit uns ist und sagt, dass wohl etwas im Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das herauszufinden braucht manchmal etwas Zeit. Aber es ist eine Zeit, die wertvoll ist und uns Interessantes über uns selbst lehren kann.
Bei manchen Menschen, die traumatische Ereignisse erlebt haben, ist die Entladung der Spannung im Körper, also das Schalten in den Ruhemodus, unter Umständen nicht vollständig abgelaufen. Der Körper steckt noch in der Erstarrung fest. Das fühlt sich in etwa so an, als wären Gaspedal und Bremse gleichzeitig voll durchgetreten. Innerlich unter Hochspannung und gleichzeitig emotional abgeschaltet. Diese abgeschaltet Sein bezeichnet man in der Fachsprache als Dissoziation.
Bei dieser Reaktion des Nervensystems spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Schocktrauma (einzelnes Ereignis), um ein Entwicklungstrauma (andauernde überwältigende Erfahrungen) oder um eine Kombination aus beiden (komplexes Trauma) handelt.
Bei manchen Menschen reagiert dieses Programm von Geburt an sensibler als bei anderen Menschen. Die Grundausstattung hat da ein besonderes Feintuning bekommen und reagiert besonders schnell. Solche Menschen fühlen sich oft schneller gestresst oder reagieren mit Beschwerden aller Art. Zu einem gewissen Teil kann dieses Programm auch durch schwerwiegende Lebensereignisse (Traumata) verstärkt werden.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es zwar nicht möglich ist, diese Sensibilität vollkommen abzutrainieren (was auch nicht sinnvoll ist, wie oben beschrieben). Aber den erworbenen Teil der Sensibilität kann man durchaus trainieren. Meist bedeutet das, den Abstand zu seiner individuellen Belastung zu vergrößern (siehe Vulnerabilitäts-Stress-Modell) oder Traumatisierungen zu behandeln. Dafür eignen sich je nach “Schweregrad” Coachings, Selbsterfahrungsworkshops oder eine Psychotherapie.
Unser Überlebensprogramm ist ein biologisches Programm, welches in uns fest verankert ist, um unser Überleben zu sichern.
Damit unser System optimal funktioniert und wir uns wohlfühlen, ist es wichtig, eine Balance zwischen Aktivierung und Entspannung im Leben zu finden.
Schalte bewusst in den Entspannungsmodus.
Tue genau das Gegenteil von dem, was im Überlebensmodus abläuft. Also…
Gedanken
Mache Dir bewusst, dass da gerade Dein Überlebensprogramm läuft, um Abstand zu gewinnen.
Lass Deine Gedanke auch mal zu schönen Dingen schweifen (den letzten Urlaub, den nächsten Urlaub, die lustige Situation von gestern, ein unerwartetes Kompliment, Deine Kinder, Partner, Natur…)
Körper
Lass Deine Muskeln immer wieder bewusst locker.
Atme langsam und bewusst.
Lenke Deine Aufmerksamkeit nach außen. Nutze Deine Sinne dafür.
Sehe, höre, rieche, schmecke, fühle Deine Umgebung.
Verhalten
Baue bewusst “Ruheinseln” in Deinen Alltag ein. Davon lieber viel kurze als eine lange.
Bleibe mit der Aufmerksamkeit bei der aktuellen Tätigkeit. Wie schnell bist Du unterwegs? Auch hier helfen Dir Deine Sinne. Schalte ggf. einen Gang zurück.
Gefühle
Die ändern sich, indem Du Deine Reaktionen auf gedanklicher, körperlicher und der Verhaltensebene bewusst veränderst.
Wiederhole diese Dinge am besten mehrmals am Tag.
Oder immer wieder dann, wenn Du merkst, dass Du im Überlebensprogramm bist und Dich gestresst fühlst.
All in one: Wenn es etwas für Dich ist, mache eine Entspannungsübung oder Fantasiereise.
Fühle Dich richtig in sie hinein.
Es ist völlig in Ordnung und normal, eine Zeit lang im Überlebensmodus zu sein.
Er soll ja das Überleben sichern.
Unser Körper schafft das schon. Dafür ist er ausgelegt.
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Birbaumer, N. & Schmidt, R. F., (1996). Biologische Psychologie. (3. überarb. Aufl.). Springer. Berlin.
Das vegetative Nervensystem wird hier in einer vereinfachten Form für fachfremde Personen dargestellt.
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